Emil Hurezeanu: Zärtlichkeit, Routine. Gedichte eines Knauserers 1979 –
2019 / Tandrețe, rutină. Poemele unui parcimonios 1979 – 2019.
Deutsch / Rumänisch. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Ludwigsburg:
Pop Verlag, 2020. 342 Seiten. Reihe Lyrik, Bd. 145. ISBN 978-3-86356-203-8.
Emil Hurezeanu ist kein unbekannter Name. Seit 2015 sind wir es gewohnt, dass über Seine Exzellenz, den Botschafter Rumäniens in der Bundesrepublik Deutschland Emil Hurezeanu, zu verschiedenen Anlässen berichtet wird.
Der 1955 in Hermannstadt geborene Emil Hurezeanu ist sehr vielseitig. Bereits als Student publizierte er Gedichte in der Klausenburger Studentenzeitschrift „Echinox“, eine elitäre Kulturzeitschrift, deren Chefredakteur er von 1976 bis 1980 war. Im Jahr 1979 erschien im Dacia Verlags ein erstes Buch, der Gedichtband „Lecţia de anatomie“ (Die Anatomiestunde), für den er mit dem Debütpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes ausgezeichnet wurde.
Was hat Hurezeanu seitdem nicht alles vollbracht. Von 1983 bis 1994 war er Redakteur und Direktor beim Radiosender Freies Europa in München, 1985 Stipendiat mit einem Sonderprogramm für internationale Beziehungen an der Universität Charlottesville/USA, 1991 an der Universität Boston. Von 1995 bis 2002 war er Leiter der Rumänischen Redaktion Radio Deutsche Welle Köln, 2002-2011 Korrespondent der Deutschen Welle in Bukarest. 2003 war er persönlicher Berater des rumänischen Ministerpräsidenten.
Außerdem kann er eine rege Tätigkeit als Journalist, Gastdozent an mehreren rumänischen Hochschulen, Produzent und Moderator von TV-Sendungen, Herausgeber von Zeitungen und Zeitschriften aufweisen.
Und bei allen diesen anspruchsvollen Aufgaben ist Hurezeanu immer auch Schriftsteller geblieben.
Vor kurzem ist ein Band mit seinen Gedichten aus 40 Jahren – zweisprachig, deutsch und rumänisch –
im Pop Verlag Ludwigsburg erschienen. Das Buch trägt den Titel „Zärtlichkeit, Routine“ und den Untertitel „Gedichte eines Knauserers 1979 – 2019“. Georg Aescht, Kulturschaffender und Übersetzer, hat die Gedichte ins Deutsche übertragen.
Der Titel verrät, dass ein Knauserer die Gedichte geschrieben hat. Das stimmt, es ist eine extrem verdichtete Lyrik, die ihre Geheimnisse nur sparsam freigibt, eine vorwiegend intellektuelle Dichtung eines gebildeten Autors, der in freien, oft verschlüsselten Versen den Leser durch die ganze Kultur- und Kunstgeschichte der Menschheit führt. Das Cover hat Emilian Roşculescu Papi gestaltet. In filigraner Zeichnung hat er eine Figur skizziert, die wie Doktor Tulp aus Rembrandts „Anatomiestunde“ in der rechten Hand eine Sezierzange hält. Dass dieser Herr ganze Arbeit leistet, zeigt der Ständer hinter ihm, wo hinter dem fertigen Werk viel zerstückelt, zerknüllt oder gar verbrannt wurde.
Schonung ist da nicht zu erwarten. Wer aber darf schonungslos die Wahrheit sagen? Im Gedicht „Nemo“ sagt der Autor: „Ich bin der finale Clown dieser Gefilde“.
Das Buch enthält Gedichte aus drei Schaffensetappen. 1979 ist „Lecţia de anatomie / Die Anatomiestunde“ erschienen, der zweite Gedichtband „Primele, ultimele / Die Ersten, die Letzten“ 1994 im Albatros Verlag, Bukarest. In einer dritten Phase von den 1990er Jahren bis 2019 erschienen die Gedichte, die im Buch als „Din periodice / Aus Periodika“ und „Cele mai noi / Die neuesten“ vermerkt sind.
Was ist das für eine Poesie, von der Kritiker sagen, sie habe die Phase einer neuen Welle postmoderner Lyrik in Rumänien eingeleitet. Ich würde sie als tiefgründig, philosophisch, ästhetisch, kulturell, reflektiert und poetologisch ausgefeilt beschreiben.
Der Autor verwendet die lyrische Allegorie und geht bis in die tiefsten Tiefen des Körperlichen und Geistigen des Menschen. Er unternimmt mehr oder weniger durch Metaphern verschleierte Streifzüge in die Mythologie, die Literatur, Malerei, Philosophie, Musik, Geschichte und Politik.
So sieht sich der Leser mit Zitaten aus der Bibel konfrontiert, gelangt mit etwas Geschick nach Camelot, begegnet Johann Wolfgang Goethe, André Malraux, Thomas Mann, Marcel Proust, Virginia Woolf, James Joyce oder Malern wie Rembrandt, Rubens, Pissarro und darf der Musik von Johann Sebastian Bach lauschen.
Es sind die großen Themen der Literatur von Werden und Vergehen, Liebe, Trennung, Heimat und Exil, die das poetische Universum von Hurezeanu beherrschen. Immer wieder blitzen Ideen aus der Philosophie Martin Heideggers auf.
Die Verse Hurezeanus erschließen sich dem Leser oft erst bei einem zweiten Lesen. Es gibt lyrische Stellen von großer Zartheit und andere wieder, wo der Text ins Epische gleitet.
„Die Anatomiestunde“
„Die Anatomiestunde“ besteht aus drei Gedichtzyklen. Der erste, „Die Abendwache“ enthält 20 Gedichte, deren Hauptthema der Tod ist. Im Gedicht „Kommunion“ heißt es: „Der Frühling Leben und Gift“. Der Tod ist im Leben inbegriffen, ist bereits seit der Geburt da. Im Gedicht „Jugend“ spricht der Dichter von Menschenjahreszeiten. Ein Verweilen gibt es nicht, aber ein Festhalten des Augenblicks im Bild. In „Sommergedicht“ wird eine Landschaft in Siebenbürgen beschrieben, doch schließlich siegt „mein Staunen vor einer Grafik“, die alles festhalten kann. „Jetzt sind wir Leinwand, Farbe und die schmale Hand./ In einem, sind eins im Lebensraum gemeinsam.“
In dem Gedicht „Imperiale für Kinderchor“ geht es um den Abschied von der Kindheit. Die Ausschnitte aus Salomons „Hohelied der Liebe“ muss der Leser erst erkennen, aber sie verleihen dem Gedicht eine Erhabenheit und Zartheit, die berührt und fasziniert. Um den Untergang von Würde und Freiheit im Kommunismus zu thematisieren, greift der Autor zu einem ganz raffinierten Mittel in einem Gedicht ohne Titel, wo es nur heißt: „Malraux ist tot.“ In seinem Werk „La Condition humaine“ schildert der französische Frühexistenzialist menschliche Gefühle wie Angst und Ekel und äußert die Idee, dass Helden Beispiele der Würde menschlicher Existenz und Beweis der Freiheit des Menschen sind. Das verstand die Securitate nicht, aber viele andere. Das war Widerstand durch Kultur. Hurezeanus Gedichte sparen nicht mit Hinweisen zur Kultur. So heißt es in einem weiteren Gedicht ohne Titel: „Ich mag Vivaldi und Proust“. In „Im Schnitt. Angelesenes Detail“ weist er auf die Wichtigkeit der Bildung hin und lässt den jungen Studenten im Gedicht mit Charlotte Buff durchs Feld laufen, ein klarer Hinweis auf Goethes „Die Leiden des jungen Werther“. Schließlich darf noch die Bauernkantate von Johann Sebastian Bach erklingen.
Das Kernstück ist das Gedicht „Die Anatomiestunde“, in dem das Bild Rembrandts dem Leser vor Augen geführt wird. Die freigelegten Adern sind „Das blaue Netz des schleichenden Verrinnens“. In einem sehr schönen, berührenden Bild erscheint das Leben wie ein Schiff, auf dem der Mensch umherirrt und nur von dem teilhabend wird, was „zu den Gestaden driftet“. Das kann das ungewisse Aufrauschen von Perlen und Goldfischen sein, aber auch „…der Andere, der an Grenzen richtet?“ Die Meerestiefe erleuchtet das Schiff und führt „zu den alten Häfen, die ewigen Merline“. Eine schöne Vorstellung am Ende dort anzukommen, wo der Zauberer Merlin zuhause ist, ein Ort wie Camelot, das von Artus als eine Welt der Menschlichkeit, Gleichheit und Harmonie gedacht war.
Der Titel „Die Nachtwache“ des zweiten Gedichtzyklus geht auf das berühmteste Gemälde Rembrandts zurück. Es sind 18 Gedichte, die sich dem Leben mit all seinen verwirrenden Fragen und Wahrnehmungen zuwenden. Diese Gedichte werden zunehmend politischer.
In „Alter italienischer Kupferstich“ sagt der Dichter: „Mit zitternder Hand kann ich noch schwarze Rahmen malen / Um eine Landschaft.“ Noch drastischer wird die Diktatur in „Mineralien Elegien“ geschildert, wenn es heißt: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer bringt mich um, wer hat mich in der Hand?“
Der dritte Zyklus, „Die Morgenwache“, besteht aus neun Gedichten, in denen die Zustände im Land kritisiert werden. Im Gedicht „Orion“ kommt ein 23jähriger Jüngling vor, der sich alt und krank fühlt in einem ziellosen Land wie Orion aus der Mythologie, der blind gegen Osten wandert. „Oho, dort wo noch Schiffe schwimmen / Ohne Masten…“ Das Land ist krank und liegt in Scherben. Rettung erhofft sich der Autor von den Jugendlichen.
Die Freiheit ist ein wichtiges Thema. In einem Gedicht ohne Titel kommt die Aussage vor: „Die Hemden der für Freiheit gestorbenen Männer / Wahren die Form des menschlichen Glücks.“ In „Politisches Sommergedicht“ heißt es: „Aus den von Gefangenen geschaufelten Gräben / Sei das Flugzeug im Flug keine Metapher.“
Der Zyklus endet mit dem Gedicht „Die Anatomiestunde des Doktor Barnard“, das Gegenstück zur Anatomiestunde des Doktor Tulp. 1967 hat Dr. Christian Barnard die erste Herztransplantation durchgeführt, damals ein Wunder der Medizin. Wie weit aber darf der Mensch in die Schöpfung eingreifen? Der Dichter sagt: „ich sehe mein Herz jetzt fällt es mir sehr schwer / das wohltemperierte Klavier zu verstehen.“
„Die Ersten, die Letzten“
Der Gedichtband „Die Ersten, die Letzten“ ist 15 Jahre nach dem ersten Band erschienen. „Die Ersten“ sind 22 Gedichte, die ein kritisches Bild des Landes und Europas zeichnen. In einem Gedicht ohne Titel heißt es: „Denn die Geschichte erkennen müssen auch wir.“ Weiterhin spricht der Poet von einem „Europa umtost von Winden“. Eines der bedeutendsten Gedichte in diesem Zyklus ist „Die gewonnene Generation“, wo es heißt: „Wo die Jugend schweigt ist Ersticken / In der Jugend ist es gut reden.“ Der Dichter ruft auf, die Angst vor den Mächtigen abzulegen, denn: „Es geht auch um Würde. / Mit Würde verstehen und verändern wir die Welt.“
Die Siebenbürgische Heimat und deren Verlassen kommt in mehreren Gedichten vor. In „Hunsrück“ wird die Erinnerung der alten Straße in Hermannstadt zur Obsession. Das Gedicht „Diese einzigartige Erfahrung“ ist eine Gedankenreise nach Siebenbürgen. „Wie nur zwischen diesen Türmen / und in den großen Wäldern rundherum / Zu denen eines Sommermorgens mein Gedächtnis auf dem Fahrrad glitt“.
„Die Letzten“ ist ein Zyklus von neun Gedichten, die von Exil und Heimweh geprägt sind. Sehr berührend, geradezu erschütternd klingen die Verse aus dem Gedicht „Abwesenheitserklärung“. Es ist das Gedicht, das Emil Hurezeanu, noch Stipendiat in Wien, an Virgil Ierunca, an den Sender Freies Europa in Paris schickte. Darin erklärt er die Gründe, warum er nicht mehr in das kommunistische Rumänien zurückkehren kann.
Der Autor wendet sich an ein fiktives Du, dass aufgefordert wird, sich zu erinnern, an die Bewachung durch Milizmänner und Milizfrauen, an die Träume aus der Kindheit des Proletariats, an die verbotene Religion und die zerstörten Kirchen. „Weißt du noch von Paulus, Johannes, Lukas und Matthäus? / Sie sind nicht mehr. / Ein Verbannungslied ist alles, was sie sind“. Kritisiert werden insbesondere die Kulturschaffenden, „Die sich gegenseitig umbringen in der eigenen Mutter / Wobei mit der roten Fahne gewedelt / und Trauer getragen wurde“. Es werden eine Reihe von Kultureinrichtungen aufgezählt, die Hoffnung geben: „Denn Leben wird unter Menschen erklärt / die lesen und einander zuhören.“ Das Gedicht endet mit einer wunderbaren Metapher. Ein lesender Mann in der Bahn fährt durch einen Tunnel und hat bei der Ausfahrt den Blick noch immer im Buch. Der Autor schreibt: „Ich habe begriffen, es gibt immer / Selbst in tiefster Nacht / Jemanden, der wissen will / um Zeugnis abzulegen.“
Der Zyklus „Aus Periodika“ besteht aus zwei Gedichten. „Selbstporträt“, das erste, beschreibt das Leben in der Diktatur aus der Erinnerung heraus. Wenn das Leben zur Winterstarre wird, und „wenn nichts mehr zu machen ist“, wählt er „einen besseren Weg nach vorn ins Unglück“. Das zweite Gedicht mit dem Titel „Selbst wenn ihr sterbt, werdet ihr leben“ ist drei Künstlern gewidmet: Jacqueline du Pré, Ginger Rogers und Joseph Brodsky. Es geht um eine Lesung im Jahr 1996 im historischen Astra-Saal in Hermannstadt. Es ist der Saal, in dem die Securitate das Bild des Kaisers übertünchen ließ, um die Geschichte Rumäniens auszulöschen, eine Parallele zum eben erfahrenen und erinnerten Tod von drei Kulturgrößen. Die Lesung will aber die Geschichte aus der Versenkung holen.
„Die neuesten“
„Cele mai noi / Die neuesten“ sind die sieben aktuellsten Gedichte. Sie werfen einen kritischen Blick auf die Welt mit all ihren aktuellen Problemen: eine alternde Gesellschaft, die Globalisierung, politischen Spannungen, Krieg, Terror und Migration.
In „Frau über 30“ stellt sich der Dichter die Frage, was bleibt im Alter von den Jugendträumen? Zärtlichkeit, Routine oder gar Zynismus und Gleichgültigkeit?
Das Gedicht „Herbst, du Grau in Grau, ich sah dich kommen“ nimmt den Leser mit nach Berlin, wo sich Albert Einstein und Max Planck trafen, um eine neue Zeit zu berechnen, aber auch eine Mauer gebaut wurde, und Menschen durch „die fatale Schleuse“ in die Freiheit zu gelangen versuchten, warum es ein Museum gibt, das Tränenpalast heißt.
Der russische Botschafter Grau in Grau, der nach sieben Jahren Dienst zurückgerufen wird, ist Anlass, über die rumänisch-russischen Beziehungen nachzudenken. Angesichts dieses Streifzugs durch die Geschichte schreibt der Autor: „Wie klein die Welt, wie groß das Leid, wie imperativ die Geschichte doch ist!“
„Salut d’amour“ ist eine Hommage an das Gedicht, das bleibt, wenn der Dichter längst tot ist. Das Gedicht, verbreitet in vielen Sprachen und unter vielen Menschen, stirbt nicht, es verleiht auch dem Dichter Wiedergeburt durch „…Lesen / Achtsamkeit / und zeitweiliges Gedenken“.
Das letzte Gedicht trägt den Titel „Am Anfang vom Ende“ und wiedergibt ein aktuelles Bild unserer Welt, eine Welt in Aufruhr, voller Zorn und Gewalt. An den sozialen Frieden glauben nur mehr die Paranoiker. Die Unruhen in Nordafrika wehen bis in die Zimmer der Politiker in Berlin. Die Waldbühne in Berlin wird zum Symbol für die Menschen in ganz Europa, die „…händchenhaltend / mit welken Wangen und roten Augen / In Erwartung des finalen Seitensprungs“ sind. Der zersplitterte Siemensofen, die vier Rumänen, die in Italien ersticken, sind Symbole für die Katastrophen, mit denen die Welt konfrontiert ist: Krieg, Terror, Flüchtlinge. Wenn die Eisbären / „Auf der Suche nach der unmöglichen Scholle“ sind, so geht es um den Klimawandel. Die Welt ist ein gestrandetes Schiff, das Versagen der Politik wird auf der geschichtsträchtigen Via Apia sichtbar, die von Migranten überflutet ist.
Emil Hurezeanu, selbst ein bedeutender Politiker, geht hart ins Gericht mit der Politik. Doch er selbst hat als Botschafter Rumäniens in Deutschland viele wichtige wirtschaftliche und interkulturelle Projekte in die Realität umgesetzt und gilt als hervorragender Brückenbauer zwischen Rumänien und Deutschland. Er handelt nach wie vor nach dem Motto, das er sich bereits in frühen Jahren auf die Fahne geschrieben hat, ein Leitspruch, welcher im Gedicht „Die gewonnene Generation“ vorkommt: „Mit Würde verstehen und verändern wir die Welt“.
Eva Filip